Im Original von Vin
What is past is gone, what is hoped for is absent, for you is the hour in which you are.
Das Licht des Vollmonds durchschnitt die bereits winterkalte Luft wie ein geisterhaftes Schwert und hüllte die Insel in seinen fahlen Schein, aber vom Erdboden aus leuchtete ihm tapfer die Wärme unzähliger kleiner Kerzen und Öllampen entgegen, eine jede von ihnen eine kleine Festung aus Feuerschein, ein Gebet an die Ahnen und ein Wunsch an die Sterne.
Langsam und mit zärtlicher Vorsicht setzte Aylissa ihre Kerze auf einem Stein ab, der sich in einiger Entfernung vom eigentlichen Festplatz befand, aber dennoch in Sichtweite des näher am Dorf befindlichen Meers aus Kerzen.
Nicht weit von ihr befand sich eine kleine Gruppe von Kerzen, die schon ein wenig weiter heruntergebrannt waren. Aylissa hatte die fünfköpfige Familie, von der sie stammten, schon vor einiger Zeit hier her kommen sehen - die drei Kinder voran, gefolgt von den im Gehen zu voller Größe aufgerichteten Eltern. Es hatte Aylissa verwundert, wie aufrecht diese beiden Menschen auf einmal gegangen waren, und im Schein der Kerzen, die sie trugen, hatte in ihren Augen ein längst verloren geglaubter Stolz geglänzt.
Längst nicht alle der Menschen auf der Insel hatten begriffen, was es tatsächlich bedeute, dass in dieser Vollmondnacht eine der ältesten und wichtigsten Ahnenzeremonien der Dorn abgehalten wurde. Für manche war das Fest nur eine Ausrede zum Trinken und Vergessen der sorgenvollen Aspekte des Lebens, für andere war es ein befremdliches Ritual, mit dem sie sich durch nichts verbunden fühlten, für wieder andere waren es einige halbherzige Gebete und Traditionsheuchelei. Aber für einige-- Für einige war es genau das, was es sein sollte. Das waren jene, deren Gang an diesem Abend fester, stolzer und selbstbewusster war als vielleicht in ihrem ganzen Leben. Jene, die einen Teil dessen wiedergefunden hatten, was die Herrschaft des Schattens ihnen genommen hatte, und nun nach mehr hungerten; jene, die in sich selbst die Stärke und die Tugenden gefunden hatten, die sie an den Ahnen verehrten.
Selbst wenn ihre Kerzen erloschen waren, in ihren Herzen würde ihr Licht weiterscheinen, und ihre Vorfahren würden stolz auf sie herablächeln.
Aylissa ließ sich vorsichtig vor ihrer Kerze auf die Knie sinken und betrachtete die kleine, flackernde Flamme schweigend.
Ein Gebet für die Toten,
Ein Wunsch für die Lebenden.
Der warme Schein der Kerze ließ flackernde Muster auf ihrer Haut tanzen und mischte sich als Spiegelbild mit dem Ernst, der in ihrem Blick ruhte. Sie wusste nicht, zu wem sie betete, aber ihr war, als wäre es nicht bloß die Leere hinter dem endlosen Sternenmeer, die ihre stummen Worte hörte.
"Hier bist du." Unverändert wirkte die Stimme ihrer Mutter, als erwarte sie jeden Moment einen Wutausbruch ihres Gegenübers, wenn nicht Schlimmeres - zögernd, ein akustisches Ducken. Dennoch lag ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen der Frau, als sie neben Aylissa in die Hocke ging und ihre Kerze neben die ihrer Tochter stellte.
"Und Vater?" Aylissa löste den Blick nicht von der Flamme ihrer Kerze, gebannt von dem kleinen, standhaften Feuer.
"Schon bei den anderen." Keine Antwort, die sonderlich überraschend war. Aenwar gab nichts auf Rituale oder andere 'sentimentale Traditionen'.
Aylissa nickte langsam.
"Hast du dir etwas gewünscht?", fragte sie nach einer langen Weile des Schweigens.
"Ja." Erneut senkte sich Stille über die beiden Frauen.
"Ich weiß, dass es in Erfüllung gehen wird", fügte Aylissas Mutter nach einer Weile noch hinzu.
"Lass es uns hoffen", sagte Aylissa so leise, dass die vom Festplatz herüberdringenden Geräusche ihre Worte beinahe übertönten, "Vielleicht funktioniert es dann wirklich."
"Ich habe mir gewünscht dass--"
Aylissa schüttelte den Kopf. "Sag's mir nicht", sagte sie unter einem sachten Lächeln.
Sie glaubte, den Wunsch ohnehin zu kennen.
Eine Weile saßen Mutter und Tochter schweigend beieinander, aber als die ältere Frau sich schließlich erhob, um zum Fest zurückzukehren, schüttelte Aylissa ein weiteres Mal langsam den Kopf.
"Ich bleibe noch ein wenig", sagte sie leichten Herzens, während ihre Augen noch immer dem Spiel der Kerzenflammen folgten.